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Das Mikrokredite gerade heute so erfolgreich sind, ist kein Zufall. Erst einige spezifische Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte ebneten den Weg für dieses monetäre „Armutsbekämpfungsinstrument“. Heute ist klar: Mikrokreditprogramme sind die Fortsetzung der Strukturanpassungsprogramme (SAPs) von IWF und Weltbank der 80er und 90er Jahre. Nun allerdings auf der Mikroebene. Wie kam es dazu? Eine Spurensuche.

Die offizielle Geburtsstunde der modernen „Entwicklungshilfe“ wird mit dem Jahr 1947 und der sogenannten „Trueman – Doktrin“ beziffert. Bis heute hat sich auf diesem Gebiet einiges getan. Nicht nur heißt „Entwicklungshilfe“ heute „Entwicklungszusammenarbeit“ (EZA), auch änderten sich die Vorstellungen und Paradigmen wie EZA auszusehen habe und gestaltet werden sollte. Was in all den Jahren aber gleich geblieben ist, ist die Tatsache, dass Entwicklungszusammenarbeit auch Entwicklungsfinanzierung braucht. Denn „ohne Geld ka Musi“. Vor diesem Hintergrund, hängen auch Mikrokredite bzw. der gesamte Mikrofinanzsektor und ihre Entwicklung unweigerlich mit den Veränderungen im Bereich der Entwicklungsfinanzierung zusammen. Seit 1947 lassen sich dabei mehrere Phasen der Entwicklungsfinanzierung unterscheiden, denen jeweils unterschiedliche theoretische Annahmen, Dogmen und Normen zugrunde liegen. (vgl. Schmidt 2001: 638ff)

Entwicklungsfinanzierung als Spiegel der Zeit

In den 50er Jahren wurde angenommen, dass das Hauptproblem der „Entwicklungsländer“, in einem allgemeinen Kapitalmangel liegt. Aus dieser Perspektive bedeutet geringes Einkommen geringe Ersparnisse, was wiederum geringes Wachstum mit sich bringt. Und Kapitalismus ohne Wachstum funktioniert bekanntlich nicht. Vor diesem Hintergrund war die Entwicklungsfinanzierung dieser Zeit darauf ausgelegt, große Summen in Industrialisierung und Infrastrukturprojekte zu investieren, um durch „linkage Effekte“ zu einer allgemeinen Steigerung der Einkommen beizutragen. Diese Phase wird auch als „goldenes Zeitalter“ der EZA bezeichnet, da es durch das „Paradigma des Marktversagens“ bestimmt wurde. Hintergrund davon war vor allem die politische Debatte in den „fortgeschrittenen“ kapitalistischen Wirtschaften, die von keynesianischen Denken dominiert wurde. Marktversagen sollte demnach durch politische Regulierung abgedämpft werden. (Katseli 2008: 10f)

Im Laufe der 1970er Jahre standen aber etliche tiefgreifende Transformationen auf politischer, sowie (makro)ökonomischer Ebene an. Zu dieser Zeit kam das bisherige Akkumulationsregime und damit der Kapitalismus in die Krise. Diese Krise stellte dabei den Hintergrund für neue Paradigmen in den Wirtschaftspolitiken etlicher Staaten und internationaler Organisationen dar, deren Auswirkungen sich auch deutlich in der Entwicklungsfinanzierung niederschlugen. Vom keynesianischen Nachfragemanagement wurde ein Schwenk zum Monetarismus und zu angebotsorientierter Wirtschaftstheorie gemacht, um auf diesen Weg der Krise Herr zu werden und für neues Wachstum zu sorgen. Zu Beginn der 80er Jahre änderte sich die politische Großwetterlage in den Industrieländern massiv. Die Annahme des „Marktversagens“ wurde abgelöst von der des „Staatsversagens“. Das erklärte Ziel in der EZA war es nun, wirtschaftliche Aktivitäten zu fördern und die Unternehmen der „self – employed people“ im informellen Sektor mit Krediten zu stützen und diesen Sektor auszubauen, umso Verantwortungen, die zuvor gesellschaftlich geregelt waren, auf das einzelne Individuum abzuwälzen und auf diesem Weg auch gleich noch Geld zu sparen. Ein Prozess der bis heute andauert. Unternehmer*innen im „informellen“ Sektor wurden so zur bevorzugten Zielgruppe der „Entwicklungshilfe“. In eben dieser Phase, etablierte sich auch die Weltbank-Gruppe als der entscheidende Akteur der Entwicklungsfinanzierung, welche dieses Feld bis heute maßgeblich prägt. Die Folgen der Krisen der 1970er Jahre sind weitreichend und  betreffen auch die EZA und damit die Vorstellungen und Konzepte von „geeigneten“ Entwicklungskonzepten. Um diese Veränderungen greifbarer zu machen, ist eine weitere Zeitreise notwendig.

Die Krise der 1970er und ihre Auswirkungen auf Entwicklungskonzepte

Nach der Kapitalismuskrise der 1930er Jahre dauerte es bis zum Ende des zweiten Weltkrieges, bis sich global eine stabile Geldordnung etablieren konnte. Den Rahmen, in dem sich die globale Geldpolitik bewegte, stellte das „Bretton-Woods-System“ dar. Die Ankerwährung in diesem System war der Dollar und in Verbindung damit eine hegemoniale Position der USA im Weltwirtschaftssystem. Aufgrund von Krise und Krieg war der internationale Handel und Kapitalverkehr massiv zurückgegangenen. Die meisten Staaten setzten deshalb auf Binnenmarktorientierte Entwicklungsstrategien. Nicht nur Länder des Südens orientierten sich deshalb – für eine Zeit auch sehr erfolgreich – an der “importsubstituierten Industrialisierung” (ISI). „Damit konnte sich Wachstum fördernde Geld- und Zinspolitik auf nationale Interessen konzentrieren. Das Bretton-Woods-System bot den geldpolitischen Rahmen für diese Entwicklungen. Es stellt ein System fixer, aber im Fall von Zahlungsbilanzproblemen anpassbarer Wechselkurse dar. Die Architektur von Bretton Woods ging wesentlich auf die Vorschläge von John Maynard Keynes zurück und bedeutete eine starke Zurückdrängung und Einschränkung des durch die Krisen geschwächten Finanzkapitals.“ (Imhof, Jäger 2007: 151) An den grundsätzlichen Widersprüchen und der Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems ändert aber auch keynesianische Wirtschaftspolitik nichts. So setzte die Kapitalismuskrise der 1970er dieser Art der Regulation ein Ende, denn zu Beginn der 70er Jahre war die ISI in vielen Ländern, vor allem in den industriell weniger entwickelten, längst an Grenzen gestoßen. Um diese Art der nachholenden Entwicklung aufrecht zu erhalten, wurden im Laufe der Jahre immer mehr finanzielle Zuschüsse und Kredite notwendig. Dies führte dazu, dass bereits am Anfang der 1970er Jahre, der Großteil der Kreditnehmer*innen hoch verschuldet waren, gleichzeitig die Zinsen aber nicht zu hoch und noch bedienbar waren. Als im Laufe des Vietnamkrieges die Gold-Dollar Deckung für die USA immer schwieriger wurde, entschied man sich in den USA dazu, diese Bindung 1971 aufzugeben, ehe 1973 auch die Aufhebung der fixen Wechselkurse folgte. (Imhof, Jäger 2007: 152) 1973 kam es schließlich zur sogenannten Ölkrise, die sich 1979/80 wiederholte. Dieser „Ölschock“ belastete Rohstoff-importierende „Entwicklungsländer“ besonders stark, da die hohen Preise umgehend zu einer Verschlechterung der Leistungsbilanzen führten. (Küblböck, Staritz 2007: 167f) In den späten 1970er Jahren führte die im Zuge der durch Kredite finanzierten Bekämpfung der hohen Inflation in den USA und der dadurch erreichten Aufwertung des Dollars, zu einer Schuldenkrise mit globalen Auswirkungen. Die Zinsen der verschuldeten Länder schnellten in die Höhe und führten etliche an den Rand, oder direkt in den Staatsbankrott. Damit diese Schulden weiter bedient werden konnten, brauchte es finanzielle Mittel. Mittel die viele Staaten zu Beginn der 1980er Jahre nicht, oder nicht mehr hatten.

Strukturanpassungsprogramme, ein Schritt näher am Mikrokredit

Aus der zuvor beschriebenen Krise ging unter anderem die Weltbank, aber auch der Internationale Währungsfond (IWF) gestärkt hervor. Denn um die Kreditwürdigkeit der in die Pleite gerutschten Staaten zu erhalten, mussten diese Abkommen mit IWF und Weltbank schließen, um eben so, zu neuen Finanzmitteln und Krediten zu gelangen. (vgl. Imhof 2006: 160) So konnten sich IWF und Weltbank zu den „Managern“ der Schuldenkrise generieren. Im Gegenzug zu Krediten, mussten verschuldete Länder Strukturanpassungsprogrammen (SAP) zustimmen. „Die Strukturanpassungsprogramme griffen tief in die nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik ein und enthielten neben der Verpflichtung zur Reduktion von Inflationsraten und Budgetdefiziten Maßnahmen zur Liberalisierung des Außenhandels sowie zur Privatisierung öffentlicher Unternehmen.“ (Küblböck, Staritz 2007: 169) Konkret mussten „Nehmerländer“ Importbeschränkungen aufheben, Haushaltsdefizite durch massive Einsparungen im Sozial- Gesundheits- und Bildungsbereich abbauen und diese Bereiche dann privatisieren, wobei Militärbudgets in der Regel von diesen Sparmaßnahmen verschont blieben. Nicht zuletzt sollte der Fokus der jeweiligen Wirtschaften von nun an auf dem Export liegen, damit die nötigen Devisen für den Schuldendienst erwirtschaftet werden können. (Klas 2011: 27) Die zitierten Forderungen nach Privatisierungen, Einsparungen und der Liberalisierung des Außenhandels, sind dabei vor dem Hintergrund zu sehen, dass angenommen wird, dass erweiterter Welthandel, Privatisierungen und die Kräfte des „freien Marktes“, für wirtschaftliches Wachstum und sozialere Gerechtigkeit sorgen werden. Wie wir heute wissen, hat sich die Schuldenkrise durch die SAPs allerdings nur verschärft. SAPs liegt dabei die Annahme zugrunde, dass der „freie Markt“ (den es ohnehin nie wirklich gibt) auf der einen Seite für Ausgleich in wirtschaftlichen Bereichen sorge, deshalb „gut“ sei und gefördert werden müsse. Demgegenüber steht der Staat mit seinen Eingriffen und Regulierungen in den „freien Markt“, der deshalb entsprechend auf seine, aus den Augen neoliberaler Theoretiker*innen, zentralen Aufgaben, Eigentumsschutz und Schutz des Vertragsrechtes beschränkt werden muss. (Michalitsch 2006, S. 49) Das tatsächlich beide Seiten, also Staat und Kapital nötig sind, um das kapitalistische Wirtschaftssystem aufrecht zu halten, scheinen viele nicht wahr haben zu wollen. (Es sei angemerkt, dass die Parallelen zu den Strukturanpassungen und Einsparungsdiktaten im Zuge der „Griechenlandhilfe“ weder zufällig noch unbeabsichtigt sind. Sie sind vielmehr das Ergebnis derselben theoretischen Annahmen. Die Auswirkungen werden auch hier für den Großteil der Bevölkerung fatal sein.)

Die massiven negativen Auswirkungen der SAPs führten in den 1990er Jahren auch zu massiven Protesten und Widerstand. (vgl. Imhof 2006: 159ff) Dieser Widerstand blieb nicht ohne Folgen. Anfang der 1990er Jahre, als die UDSSR bereits Geschichte war, sollte auf die Proteste gegen die SAPs endlich reagiert werden. Genau an dieser Stelle kommen nun Mikrokredite ins Spiel, denn mit ihnen sollten die negativen Folgen der SAPs „abgefangen“ werden. Das Paradigma der Armutsbekämpfung als primäres Ziel der EZA, hat sich zu Beginn der 1990er Jahre durchgesetzt. Ananya Roy macht diese Entwicklung besonders greifbar.

Armutsbekämpfung: Ein neues Paradigma in der EZA

Im Zuge ihrer Untersuchungen, führt Roy das von Francis Fukuyama 1992 kurz nach dem Ende der UDSSR publizierte Werk „The End of History and the Last Man“ an und erkennt in der Diskussion um das Werk einen markanten Wendepunkt für die EZA. In „The End of History and the Last Man“, stellt Fukuyama die Behauptung in den Raum, dass mit dem Ende des „Kalten Kriegs“, automatisch auch das Ende der ideologischen Evolution der Menschheit eingetreten ist. Die westliche liberale Demokratie würde damit zur weltweiten Norm werden. Darüber hinaus artikulierte Fukuyama die These, dass sich nach dem Ende des Staatskommunismus, der freie Markt weltweit durchsetzen würde. (Roy 2010: 15)

Da der „freie Markt“ aber bereits ein Jahrzehnt zuvor mittels SAPs in weite Teile der Welt „getragen“ wurde und nachweislich nur eine Minderheit von dieser Entwicklung profitieren konnte, stießen die Verheißungen über den „freien Markt“ von Fukuyama nicht nur auf positive Reaktionen, um es vorsichtig auszudrücken. Roy führt das Buch „Specters of Marx“ vom französischen Philosophen Jacques Derrida als die bedeutendste Reaktion auf Fukuyama ins Feld. Für Roy steht fest, dass es unter anderem Derrida zu verdanken ist, dass der Fokus in der Diskussion um die Vorteile der Ausbreitung des freien Marktes und des Kapitalismus, umgelenkt wurde auf die enormen Probleme dieser Wirtschaftsform. „Writing against Fukuyama, Derrida (1994: 106) draws attention to an „obvious macroscopic fact,“ that „never before, in absolute figures, have so many men, women and children been subjugated, starved or exterminated on the earth.“ In short, the euphoria of the free market was giving way to specter of poverty.“ (Roy 2010:15) Aus der Distanz die uns die Zeit hier auf dieses Thema schafft, kann heute gesagt werden, dass die Botschaft Derrida’s verstanden wurde. Allerdings dürften die Konsequenzen die daraus gezogen worden sind, wohl alles andere als im Sinne Derrida‘s gewesen sein.

Mikrokredite als „social nets“?

Für Roy und Weber steht fest, dass es aus der Sicht von führenden Industriestaaten sowie Weltbank und IWF bzw. aus Sicht der führenden Gruppen und Individuen in diesen Strukturen notwendig wurde, auf die Vorwürfe, „freier Markt“ bedeutet für die meisten Armut, zu reagieren. Nicht zuletzt um das Projekt des globalen freien Marktes nicht bereits wenige Jahre nach dem Ende der UDSSR wieder massiv in Gefahr zu bringen. Somit wurde Armut als das neue, wichtigste zu bekämpfende Übel auserkoren. „In Washington DC, James Wolfensohn as president of the World Bank declared a post-Washington consensus. In a key speech, titled „The Other Crisis,“ delivered to the annual meeting of World Bank Governors in 1998, Wolfensohn argued that while the world was fixated on a financial crisis (…) it had failed to notice that another crisis was looming: poverty.“ (Roy 2010: 15f)

Mit denselben Argumenten, mit denen SAPs also durchgesetzt wurden, sollten auch Mikrokredite implementiert werden. Nun allerdings nicht auf der Makroebene, sondern auf der Mikroebene und zwar um die negativen Auswirkungen der SAPs abzudämpfen.  Doch bereits jetzt kann gesagt werden, dass auch auf der Mikroebene die Folgen katastrophal sind und sein werden. Enteignungen, Armut und Elend werden ausgeweitet und fortgesetzt. „The World Bank and IMF responded to these concerns, and targeted ‚poverty reduction’ programs were included within the framework of SAP often under the general header of (social) safety nets. Many of these poverty reduction projects were designed to advance income-generation and self-employment, and many included large microcredit components.“ (CGAP 1997 zitiert nach Weber 2004: 359)

Mikrokredite erscheinen also auf den ersten Blick als etwas, das sich unabhängig von SAPs und somit auch von Restrukturierung des Kapitalismus entwickelte. Sie als das Ergebnis eines neuen kapitalistischen Akkumulationsregimes zu verstehen, dessen Entstehungsprozess bis in die 1970er Jahre zurückreicht, erscheint vor dem jetzigen Hintergrund aber angebrachter. Übrigens war der Schritt von Mikrokrediten als monetäres Entwicklungskonzept staatlicher Entwicklungsagenturen hin zu privaten Anbieter*innen ein kleiner. Angesichts des hohen Wachstums des Mikrokreditmarktes und der großen Gewinne, ist dies wenig überraschend. Das dabei aber nicht „Hilfe für Arme“ im Mittelpunkt steht, dürfte klar sein. Vielmehr werden strukturelle und soziale Probleme entideologisiert sowie entpolitisiert und stattdessen Mikrokredite als „technische“ Lösungen für Probleme angeboten, welche Mikrokredite in Wirklichkeit nur weiter vorantreiben.


Literatur

* Imhof, Karen (2006): Revolution und Staatsbildung in Mexiko. In: Englert, Birgit; Grau, Ingeborg; Komlosy, Andrea (Hrsg): Nord-Süd-Beziehungen, Kolonialismen und Ansätze zu ihrer Überwindung, S. 145 – 169, Wien, Mandelbaum Verlag.

* Imhof, Karen; Jäger, Johannes (2007): Globale Geldordnungen und Entwicklungsprozesse in Zentrum und Peripherie. In: Becker, Joachim; Imhof, Karen; Jäger, Johannes; Staritz, Cornelia (Hrsg.): Kapitalistische Entwicklung in Nord und Süd, Handel Geld Arbeit Staat, S. 143 – 160, Wien, Mandelbaum Verlag.

* Karim, Lamia (2008): Demystifying Micro – Credit, The Grameen Bank, NGOs, and Neoliberalism in Bangladesch, SAGE Publications, 20 (1), Oregon USA, S. 5 – 29.

* Katseli, Louka (2008): Historischer Überblick zur Geschichte der EZA, Schwerpunktsetzung in der EZA – ein Überblick über ein entstehendes Paradigma. In: Freudenschuß-Reichl, Irene;  Bayer, Kurt (Hrsg.): Internationale Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit, S. 9 – 22, Wien, Manz.

* Klas, Gerhard (2011): die Mikrofinanz – Industrie, die große Illusion oder das Geschäft mit der Armut, Assoziation A, Berlin/ Hamburg.

*Küblböck, Karin; Staritz, Cornelia (2007): Internationale Verschuldung und (Unter-) Entwicklung. In: Becker, Joachim; Imhof, Karen; Jäger, Johannes; Staritz, Cornelia (Hrsg.): S. 160 – 184, Wien, Mandelbaum Verlag.

* Michalitsch, Gabriele (2006): Die neoliberale Domestizierung des Subjekts, Von den Leidenschaften zum Kalkül, in: Politik der Geschlechterverhältnisse 12 (23)  Frankfurt am Main, Campus – Verlag.

* Roy, Ananya (2010): Poverty Capital, Microfinance and the Making of Development, Routledge, New York/ London.

* Schmidt, R.H. (2001): Entwicklungsfinanzierung. In: Gerke, Wolfgang & Steiner, Manfred, Hrsg. Handwörterbuch des Bank- und Finanzwesens. Stuttgart: Schäffer – Poeschel, S. 638 – 647. (Enzyklopädie der Betriebswirtschaftslehre, Bd.6)

* Weber, Heloise (2004): The ‘new economy’ and social risk: banking on the poor? Review of International Political Economy, 11: 2, 356 – 386.

Dieser Text basiert auf meiner Diplomarbeit „Mikrokredite und ihre Funktion zur Ausbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse“ (Jänner 2012)


Der Artikel räumt nicht nur mit dem Mythos auf, dass Mikrokredite Armut bekämpfen würden, sondern zeigt auch, warum Frauen besonders oft in der „Mikrokreditfalle“ landen.

Diese Geschichte kommt im Westen gut an. Ein Professor aus Bangladesch, der in den USA studierte, will Armut „effektiv“ bekämpfen und „erfindet“ deshalb ein Konzept, dass es „armen“ Menschen ermöglichen soll, sich selbst aus dieser Armut zu befreien. Dieses Konzept nennt sich „Mikrokredite“ und ist heute rund um die Welt bekannt und etabliert. Tatsächlich aber verschlimmern Mikrokredite die Situation der meisten KreditnehmerInnen. Entgegen der weitläufigen Meinung, sind Mikrokredite einzig ein sicherer Weg in die Schuldenfalle. Elend, Armut, Abhängigkeit und Ausbeutung werden durch sie vorangetrieben.

Die Überlegung ist recht simpel. „Arme“ Menschen bekommen Geld geliehen, um damit ein eigenes Business starten zu können. Auf diesem Weg können sie wiederum Geld verdienen und anschließend den Kredit samt (angeblich) niedrigen Zinsen zurückzahlen. Um sich gegenseitig besser unterstützen zu können, so wird argumentiert, werden die Kredite hauptsächlich an „lending groups“, also kleine Zusammenschlüsse von KreditnehmerInnen vergeben. (Lohman 2009: 111) Diese verwalten das Geld und wenn eine Person mal nicht zurückzahlen kann, springen die anderen ein. Damit auch ein Maximum an Förderung gewährleistet werden kann, sind die primäre Zielgruppe der KreditgeberInnen Frauen. Es wird argumentiert, dass so die Unabhängigkeit der Frauen gestärkt werden kann. („empowerment“). Damit könne angeblich dazu beigetragen werden, traditionelle Geschlechterrollen aufzubrechen, um so für mehr Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu sorgen. (Batliwala; Dhanraj 2006: 373f)  Wer den Kredit dann zurückzahlt, so die einfache Rechnung, hat es aus der Armut geschafft. Und da die Rückzahlungen der Kredite tendenziell sehr hoch sind, wird davon ausgegangen, dass Mikrokredite „effektiv“ aus der Armut helfen. Hört sich gut an, hat mit der Realität aber wenig zu tun.

Mikrokredite wurden nicht von Yunus Muhammad erfunden. Die Grundidee dieses Konzeptes lässt sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Dies ist aber wohl noch eine der harmlosen Mythen rund um die „kleinen Kredite“. Denn noch nie zuvor waren so viele Menschen direkt oder indirekt (über andere Familienmitglieder) von den Auswirkungen der Mikrokredite betroffen. Laut aktueller Statistik der „Microcredit Summit Campaign“ sind es eine dreiviertel Milliarde Menschen weltweit, wobei die meisten davon in Südasien leben. (Maes/ Reed 2012: 3f) Dabei sind Mikrokredite schon längst nicht mehr nur ein Mittel der Entwicklungszusammenarbeit (EZA). Jede Bank, jede NGO und jede staatliche oder private Entwicklungshilfeagentur, die etwas auf sich hält, also auch die Austrian Development Agency (ADA), springt auf den Zug auf und bietet Mikrokredite an. Angesichts des Ausmaßes dieses „Entwicklungskonzeptes“ ist es an der Zeit einige der Mythen um diese Kredite zu beseitigen, denn die Kluft zwischen der Rezeption im Westen und den Erfahrungen der einzelnen KreditnehmerInnen könnte größer nicht sein.

Frauen als bevorzugte KundInnen

Das Mikrokredite großteiles an Frauen vergeben werden, ist kein Zufall, sondern Teil der zweifelhaften „Erfolgsgeschichte“. (Maes/ Reed 2012: 36) Denn tritt der besonders häufige Fall ein, dass der Kredit nicht mehr bedient werden kann, wird zuallererst in der „lending group“ und im direkten sozialen Umfeld, über FreundInnen, NachbarInnen und Verwandte Druck auf die KreditnehmerInnen ausgeübt. Das macht Sinn, denn keine der Frauen will ihr weniges Hab und Gut wegen einer säumigen Schuldnerin in der Gruppe verlieren. Die gesamte Gruppe steht somit unter hohem (sozialen) Druck den Kredit – in der Regel wöchentlich – zurückzahlen zu müssen. Dass es auf Mikrokredite keine Sicherheiten gibt, ist dabei einer der größten Legenden. (Klas 2011: 76ff) Ausfälle darf es nicht geben, denn sonst würde die gesamte Gruppe die Konsequenzen tragen müssen. Wer nicht mehr zahlen kann, dem oder meistens der, droht mittelfristig aber nicht nur der Ausschluss aus der „lending group“, sondern auch die Isolierung im Dorf und somit der Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft.(1)

Die Summe der Mechanismen, Mittel und Praktiken, die angewendet werden, um soziale Kontrolle auszuüben und Frauen dazu zwingen, die Rückzahlungen mit allen Mitteln einzuhalten, nennt die Anthropologin Lamia Karim übrigens „Wirtschaft der Beschämung“. Die Möglichkeiten über sozialen Druck und Gewalt Menschen dazu zu bringen, die Schulden für die Mikrokredite zurückzuzahlen, sind mannigfaltig. Karim spricht in ihrer Arbeit von rüder Sprache und Drohungen gegenüber den Schuldnerinnen, sexuellen Übergriffen oder den erfundenen Vorwurf sexueller Untreue, um die Person im Dorf oder dem Viertel schlecht zu machen. Auch das zwangsweise Abschneiden der Haare und regelmäßiges Bespucken beschreibt sie als übliche Mittel, um das Ansehen einer Person zu beschädigen und den Druck noch härter zu arbeiten oder Gegenstände aus dem Haushalt zu verkaufen, um den Kredit bezahlen zu können, zu steigern. (Karim 2008: 9ff)

Wo sozialer Druck und/oder die Isolierung in der Dorfgemeinschaft nicht mehr helfen, springt der Staat ein, um die Zahlungsmoral wieder „herzustellen“. So übernimmt der Staat eine zentrale Rolle im Mikrokredit – Komplex, um die Rückzahlung der Mikrokredite aufrecht zu erhalten. Einerseits durch die Androhung von Gewalt, andererseits durch deren fortgesetzte Anwendung. Dazu zählen Auspeitschen, Einsperren und Folter. Sollte bei den Kreditnehmerinnen irgendwann tatsächlich nichts mehr zu holen sein, ist es in der Regel auch der Staat, der aus öffentlichen Geldern die Schulden zurückzahlt und so Banken, Fonds und Mikrofinanzinstitutionen (Microfinance Institutions) schadlos hält. (Klas 2011: 38/ 48f/ 149ff) Dieser Prozess als Ganzes fördert wiederum Misstrauen und Feindschaften im Dorf. Laut Karim gibt es keine Dörfer, in denen es aufgrund von Mikrokrediten nicht zu Streitigkeiten, Auseinandersetzungen und Übergriffen kam. Die sozialen Netze und Strukturen in den Dörfern können so zerstört und Entsolidarisierung vorangetrieben werden. (Karim 2008: 11ff)

Christa Wichterich kritisiert deshalb, dass gerade Frauen, die aus den ärmsten Klassen stammen, durch Mikrokredite unter enormen sozialen Druck gesetzt werden. Nur mehr eine Frau die Geld beschafft, ist eine „gute“ Frau. Hinzu kommt die hoffnungslose Überforderung, die mit den mannigfachen Entwicklungsaufgaben, die zuvor meist öffentlich organisiert waren und nun zunehmend Frauen übernehmen sollen. Dies führt zu Überforderungen, die allzuoft in einer Verschuldungsspirale münden und so die bereits prekäre Situation vor allem vieler Frauen weiter verschlechtert. (vgl. Wichterich 2006: 25) Jude Fernando hingegen macht deutlich, dass spätestens bei der Eintreibung der Kredite klar wird, dass für die MFIs „empowerment“ gar kein Thema ist, sondern nur die pünktliche Rückzahlung und der Gewinn. (vgl. Fernando 2006: 179) Batliwala und Dhanraj beschreiben dies als einen Privatisierungsprozess, also eine Verschiebung staatlicher/öffentlicher Aufgaben in den individuellen Verantwortungsbereich, was nicht zuletzt ein Merkmal neoliberaler Vergesellschaftung ist. Frei nach dem Motto, alle können einen Kredit bekommen, wer es damit aus der Armut schafft, hat die Chance genutzt, alle anderen sind selber schuld. (vgl. Batliwala; Dhanraj 2006: 374ff) Das Ziel Frauen zu Unternehmerinnen zu machen, die ein gewinnbringendes Geschäft aufbauen und führen, Kredite zurückzahlen, sich um ihre Familie und Angehörige kümmern und versorgen und noch dazu für all diese Aufgaben alleine verantwortlich sind, wird so in immer mehr wissenschaftlichen Beiträgen als neoliberale Subjektivierung dekonstruiert. (Girstmaier 2010: 61ff; Klas 2011: 279f) An den existierenden Herrschaftsverhältnissen ändern Mikrokredite aber nichts. Strukturelle und gesellschaftliche Probleme werden nicht hinterfragt. Im Gegenteil.

Von wegen „keine Zinsen“

Das ein hohes Maß an Gewalt notwendig ist, um die Rückzahlung der Mikrokredite aufrechtzuerhalten, wird dann nachvollziehbar, wenn wir uns die konkreten Zinsen für einen Mikrokredit ansehen. Gerhard Klas schreibt in seinem Werk „Die Mikrofinanz – Industrie“, dass der weltweit durchschnittliche Zinssatz für Mikrokredite bei knapp 40% per anum liegt. (Klas 2011: 21) Extrem hohe Zinsen sind auch eine wichtige Basis für die Gewinne, die am Mikrokreditmarkt gemacht werden. Diese wiederum sind der Antrieb für eine weitere Ausweitung dieses Marktes, indem weitere Kredite in diverseste Regionen gepumpt werden.

Ein Umstand, der immer mehr Klein- und KleinstbäuerInnen zum Verhängnis wird. Denn wer den Kredit nicht mehr bezahlen kann, verliert früher oder später auch jeglichen anderen Besitz. Eine Katastrophe für Menschen, denen die Subsistenz- oder Semisubsistenzwirtschaft die einzige Möglichkeit ist, ihr Überleben zu sichern. Zur Schuldentilgung gehen so Höfe, Häuschen und Hütten samt Inventar, sowie dazugehöriges Ackerland und mag es noch so klein sein, in den Besitz von MFIs, Banken und Fonds über. Der Begriff „Enteignung“ ist hier angebracht. Für die Abmontage von Häuschen und Hütten durch MikrofinanzinstitutionsmitarbeiterInnen und Polizei hat sich bereits ein eigener Begriff etabliert: „house breaking“. (Karim 2008: 9ff) Zehntausende Bauern und Bäuerinnen in Indien und Bangladesch wählten in den letzten Jahren lieber den Freitod, als den Verlust ihres wenigen Ackerlandes mitzuerleben. (Klas 2011: 94/ 193) Diejenigen, die ihren Besitz gezwungenermaßen abgeben mussten, treibt es samt ihren Familien in die Städte, wo sie sich von nun an als ArbeiterInnen, frei von Produktionsmitteln, aber mit einem Rucksack voller Schulden, durchschlagen müssen. Auf diesem Weg werden Menschen aus der Subsistenz- bzw. Teilsubsistenzwirtschaft in die kapitalistische Geldwirtschaft gezwungen. Marx nannte diesen Prozess übrigens die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“. Dies ist ein Prozess, welcher der Ausweitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse quasi bedingt. (vgl. Bachinger/ Matis 2009: 372ff; Harvey 2005: 140ff)

Tatsächlich gibt es bis heute keine wissenschaftlichen Langzeitstudien, die belegen können, dass sich Mikrokredite positiv auf die Armutsbekämpfung auswirken. Ein Umstand, den sogar die deutsche Bundesregierung eingestehen musste. (Klas 2011: 48) Wobei an dieser Stelle dringend hervorgehoben werden muss, dass nicht die hohen Zinsen der Kern des Problems sind. Zinsen selbst, sind kurz gesagt, nur der Ausdruck des Warenverhältnisses im Kapitalismus. Demnach erfüllen sich auch am Mikrokreditmarkt nur die grundlegendsten Funktionen kapitalistischer Verwertungslogik. Mikrokredite rühren so weder die Ursachen von Armut an, noch werden die herrschenden Verhältnisse in Frage gestellt und auch an der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums wird mit Mikrokrediten nichts geändert. Grundlegende Kritik an Mikrokrediten muss demnach auch immer Kapitalismuskritik sein.

Darfs auch keine EZA sein?

Nicht zuletzt gilt es auch den aktuellen „Mainstreambegriff“ von „Armut“ zu kritisieren. Denn ein Armutsbegriff, der sich normativ nur auf die Abwesenheit von Geld und Finanzservices bezieht, ist nicht in der Lage, die vielseitigen und vielfältigen Formen, Gründe und Wurzeln von Armut zu erkennen. Nur ein differenzierter Begriff von Armut, kann den vielen Ausformungen dieses zumeist gesellschaftlich produzierten Zustandes gerecht werden und ist so auch eher vor Instrumentalisierung geschützt. Und schließlich müssen wir uns ernsthaft fragen, wo der Sinn darin liegt, „Entwicklung“ über Verschuldung von Einzelpersonen vorantreiben zu wollen. Nach Jahrzehntelanger erfolgloser Entwicklungshilfe oder „EZA“ wird es heute endlich Zeit, diese als Ganzes in Frage zu stellen: Wäre die Abschaffung der EZA, wie sie heute definiert und gehandhabt wird, vielleicht die beste Entwicklung die  den sogenannten „Armen“ passieren könnte?


Literatur

* Batliwala, Srilatha; Deepa Dhanraj (2006): Gender-Mythen, die Frauen instrumentalisieren. In: Peripherie, Nr. 103, S. 373-385.

* Bachinger, Karl; Matis, Herbert (2009): Entwicklungsdimensionen des Kapitalismus,

Klassische sozioökonomische Konzeptionen und Analysen, Böhlau, Köln, Weimar, Wien.

* Fernando, Jude (2006): Microfinance, perils and prospects, London, Routledge.

* Garikipati, Supriya (2008): The Impact of Lending to Women on Household Vulnerability and Women´s Empowerment: Evidence from India. In: World Development, Vol 36, Nr. 12. S. 2620-2642.

* Girstmaier, Stefanie (2010): “The Entrepreneural Poor” Das Subject im Anti – Aid – Entwicklungsdiskurs, Dipl. Arbeit, Wien.

* Harvey, David (2005): Der neue Imperialismus, VSA Verlag, Hamburg.

* Karim, Lamia (2008): Demystifying Micro – Credit, The Grameen Bank, NGOs, and Neoliberalism in Bangladesch, SAGE Publications, 20 (1), Oregon USA, S. 5 – 29.

* Klas, Gerhard (2011): die Mikrofinanz – Industrie, die große Illusion oder das Geschäft mit der Armut, Assoziation A, Berlin/ Hamburg.

* Lohmann, Nike (2009): Mikrofinanz in den Entwicklungsländern – Hilfe für die Armen? Eine normative Betrachtung, Spektrum – Berliner Reihe zu Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in Entwicklungsländern, Band 102.

* Maes, Jan P.; Reed, Larry, R. (2012): State of the Microcredit Summit Campaign Report 2012: http://www.microcreditsummit.org/pubs/reports/socr/2012/WEB_SOCR-2012_English.pdf [abgefragt am 10.7.2012]

* Nilges, Thorsten (2005): Zunehmende Verschuldung durch Mikrokredite, Auswertung eines Experiments in Südindien. In: Duisburger Arbeitspapiere Ostasienwissenschaften, 63, 11, Universität Duisburg – Essen, Institut für Ostasienwissenschaften.

*Wichterich, Christa (2006): Sozialer Friede durch Kleinkredite? Ein preisgekröntes entwicklungspolitisches Instrument auf dem Prüfstand. In: Frauensolidarität. 2008/4.Wien. S. 24-25

Anmerkungen

(1) Zu Mikrokrediten gibt es ausführliche feministische Kritik, die u.a. den Fokus auf Frauen bei der Mikrokreditvergabe als simple Strategie der Gewinnmaximierung dekonstruiert. Im Zentrum der Kritik steht außerdem die neoliberale Subjektivierung, für die Mikrokredite ein wichtiges und unerlässliches Werkzeug sind, aber auch die (nicht einlösbaren) Versprechen durch Mikrokredite Unabhängigkeit und „empowerment“ zu erreichen. (Siehe dazu: Fernando 2006 / Garikipati 2008, S. 2636ff/ Batliwala; Dhanraj  2006) In den letzten Jahren waren es vor allem radikale feministische Kritikerinnen, die den Mikrokreditansatz als Ganzes in Frage stellten. (vgl. Nilges 2005: 12ff)